Wer ist Häuptling Seattle?

Und was, um Himmels Willen, hat er in Fiktionen und Fakten zu suchen?


Manch einem Leser mag unser guter alter Häuptling Seattle ans Herz gewachsen sein, spricht er doch aus, was viele denken, jedoch nicht in Worte fassen können oder wollen. Manchen geht er womöglich gehörig auf den Geist mit seiner ewigen Mahnhuberei, zum Beispiel mit dem berühmten Satz:

„Erst wenn der letzte Baum gerodet, der letzte Fluss vergiftet, der letzte Fisch gefangen ist, werdet ihr merken, dass man Geld nicht essen kann“, 

den er in Gestalt des Indianer-Häuptling Seattle vom Stamme der Suquamis anno 1858 in seiner berühmten Rede an den Gouverneur des Washington-Territoriums gesagt hat. 

Fiktion, oder Fakt?


Diese "alte Indianerweisheit", dass man Geld nicht essen kann, fand in der deutschen Öffentlichkeit weite Verbreitung, unter Anderem als prägender Refrain im Lied "Rauchzeichen" des ersten, 1980 veröffentlichten, Albums der Band "Ape, Beck & Brinkmann". Das Umweltlied wurde auf mehr als 100.000 Tonträgern unters Volk gebracht und sogar in deutschen Schulbüchern abgedruckt. 

„Ape, Beck & Brinkmann“ entwickelte sich auf ihrem "Weg ins Regenbogenland" 1982 zu einer Greenpeace-Vorzeigeband. In ihrem Album "Die Träumer sind die Ersten", präsentierten die völlig abgeschnarchten Musiker 1984 eine alternative Ministerliste. Zum Schattenkabinett zählten u.a. Martin Luther King, Crazy Horse, Neil Young, Reinhold Messner, Pablo Picasso und John Lennon. (Quelle: Deutschlandfunk, 29.08.2012).

Die "alte Indianerweisheit" wurde ausserdem in Deutschgrünland massenhaft durch Aufkleber, Poster, T-Shirts und dergleichen verbreitet, meistens verziert mit farbenfrohem, „indianisch“ anmutendem Deko-Firlefanz. Diese Devotionalien wurden unter anderem auch von Greenpeace in Umlauf gebracht. Der Spruch, leider fälschlich unserem alten Freund Seattle zugeschrieben, hat sich als Mem nachhaltig in die Gehirnwindungen realitätsresistenter Spät-Achtundsechziger und ihrer denkfaulen Epigonen eingeätzt.

Wie konnte es dazu kommen? Der amerikanische Journalist Henry A. Smith, Ohrenzeuge der Rede des Häuptlings, veröffentlichte 1887 (also 33 Jahre später) nach seiner Erinnerung in der Zeitung „Seattle Sunday“ die folgende Zukunftsvision des Indianers:

„Und wenn der letzte rote Mann von der Erde verschwunden und die Erinnerung des weißen Mannes an ihn zur Legende geworden ist, dann werden diese Gestade übervoll sein von den unsichtbaren Toten meines Stammes, ... dann wimmeln sie von den wiederkehrenden Scharen, die einst dieses Land bevölkerten und es immer noch lieben.“ (Quelle: Wikipedia)

Der amerikanische Literaturhistoriker und Filmregisseur Ted Perry veränderte den immerhin späte Erlösung verheissenden Sinn dieser Sätze, als er 1972 eine Version verbreitete, die eine ökologische Botschaft von ihm unterstützen sollte, folgendermassen: 

„Wenn der letzte rote Mann mit seiner Wildnis verschwunden und die Erinnerung an ihn nur der Schatten einer Wolke ist, die sich über die Prärie bewegt, werden diese Küsten und Wälder dann noch da sein? Wird vom Geist meines Volkes etwas übrig bleiben?“

Der erste Teil des Pseudo-Seattle-Satzes mit den Bäumen, Flüssen und Fischen kommt auch in einer Version der „Legende von den Regenbogenkriegern“ vor, die die amerikanischen Geographen William Willoya und Vinson Brown 1962 erstmals als Prophezeiung der Hopi veröffentlichten. Eine von Lelanie Stone überlieferte Version der Legende soll von einer alten Cree-Frau stammen. 

Auch dieses möglicherweise indianische Original endet ähnlich wie die Prophezeiung des Häuptlings Seattle nicht mit der Mahnung an die Gier der Menschen, sondern mit dem Erscheinen einer Armee von Regenbogenkriegern (Rainbow Warriors).

Ape, Beck & Brinkmann und Greenpeace werden sich gedacht haben: Indianer ist immer gut, weil erstens, Opfer des „weissen Mannes“ und zweitens, nachhaltig naturlieb á la „Entschuldigung lieber Bison, aber ich muss Dir jetzt leider ein Steak aus den Rippen schneiden, ist nicht persönlich gemeint, ist nur wegen Hunger“ oder so ähnlich. Und drittens war damals anno ´82 „alt“ noch kein Synonym für Senilität, sondern stand für Weisheit. Viertens kann in führerlosen Zeiten lediglich ein toter, ausländischer und zudem eingeborener „Häuptling“ ein Recht auf Meinungs- und Deutungshoheit beanspruchen. Und fünftens ist "Geld" eine Begleiterscheinung des Kapitalismus und also pfui, besonders wenn es Andere haben.

Jetzt aber haben wir schon das erste Jahrzehnt des einundzwanzigsten Jahrhunderts hinter uns und Ape, Beck & Brinkmann und Greenpeace sind nicht mehr auf der Höhe der Zeit, von Häuptling Seattle ganz zu schweigen. 

Lassen wir ihn trotzdem zu Wort kommen:


„Erst wenn Ihr die letzte junge, allein erziehende, vegane, klimaflüchtige Indianerin mit Migrationshintergrund und changierender Geschlechtsidentität in euer Sozialsystem integriert habt, werdet ihr merken, dass ihr den alten Häuptling Seattle nicht mehr braucht“

Grüne Jugend, übernehmen Sie!

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