Freitag, 19. Oktober 2012

Schiller und Goethe im schiefen Turm von PISA

Bürgschaft (nein, nicht schon wieder Griechenland) und Erlkönig wieder aktuell!


Die seit 68 selig in den oberen Etagen des Elfenbeinturms unverbesserlicher Kulturromantiker herumhartzenden deutschen Klassiker müssen im postpädagogischen Deutschland ihre alten Knochen noch einmal zusammenreißen. Sie müssen zur Rettung von Disziplin (igitt!) und Ordnung (bäh!) an mangelhaft fundierten Bildungseinrichtungen in diesem unserem PISA-Lande antreten. 

Wie das? Keine Angst, Goethe und Schiller bleiben immer noch weitgehend und nachhaltig (prima!) aus dem Bildungskanon deutscher Schulen verbannt, und das Auswendiglernen von Gedichten ist ja ohnehin sowas von gestern, dass heute nur noch wenige Lehrer es ernsthaft ihren Schülern zumuten. 

Etlichen Gliedern des deutschen Lehrkörpers scheint immer noch die schreckliche Wirkung deutscher Klassik, peinlich stockend vor feixenden Klassenkameraden vorgetragen, in den Knochen zu stecken. Warum also nicht den Schrecken instrumentalisieren? Denn: Was mich schreckt, lehrt auch dich das Fürchten! Getreu dieser Maxime setzen verzweifelte Lehrer, die des im Unterricht obwaltenden ohrenbetäubenden Lärms nicht mehr Herr werden können, die Titanen des deutschen Sturm und Drang als ultimatives Druckmittel ein*: Wer zu laut ist, muss zur Strafe (pfui!), bzw. Abschreckung (na, na!), oder Besinnung (genehmigt!) Schillers Bürgschaft, Goethes Erlkönig und dergleichen auswendig lernen (mindestens 3 Strophen). 

*Wie kürzlich an einer niedersächsischen Hauptschule geschehen.

Es gibt aber auch heute noch unerschrockene Kulturrevolutionäre, die sich nicht ins Bockshorn jagen lassen und altes Kulturgut respektlos nach ihrem Gutdünken umformen, wie das nachfolgende Beispiel zeigt:

Erlkönig 


Wer reitet so spät durch Nacht und Wind? 
Es ist der Vater mit seinem Kind;
Er hat den Knaben wohl in dem Arm,
Er fasst ihn sicher, er hält ihn warm.

Wer gleitet so spät durch PISA-Wind?
Pädagogen sind´s - Angst vor dem Kind;
Sie dressier´n die Knaben ohne Erbarm´,
Sie fassen nicht an, sie machen´s mit Charme.

Mein Sohn, was birgst du so bang dein Gesicht? —
Siehst, Vater, du den Erlkönig nicht?
Den Erlenkönig mit Kron’ und Schweif? —
Mein Sohn, es ist ein Nebelstreif. —

Mein Schüler, was ist, warum schweigst Du nicht? -
Siehst, Lehrer, du deinen Irrtum nicht?
Den alten Irrtum, bedeckt mit Reif?-
Mein Schüler, es ist ein Fortschrittsstreif. -

„Du liebes Kind, komm, geh mit mir!
Gar schöne Spiele spiel’ ich mit dir;
Manch’ bunte Blumen sind an dem Strand,
Meine Mutter hat manch gülden Gewand.“ —

„Du liebes Kind, komm folge mir!
Pädagogische Spiele spiel´ ich mit dir;
Manch´ bunte Ideen durchziehn das Land,
Und flugs verschwurbeln uns den Verstand.“ -

Mein Vater, mein Vater, und hörest du nicht,
Was Erlenkönig mir leise verspricht? —
Sei ruhig, bleibe ruhig, mein Kind;
In dürren Blättern säuselt der Wind. —

Mein Lehrer, mein Lehrer, und merkest Du nicht,
Was Dein Irrtum mir in Wahrheit verspricht? -
Sei ruhig, halte die Klappe, mein Kind;
Den Sinn Deiner Worte verweht der Wind. -

„Willst, feiner Knabe, du mit mir gehn?
Meine Töchter sollen dich warten schön;
Meine Töchter führen den nächtlichen Reihn
Und wiegen und tanzen und singen dich ein.“ —

„Willst, lauter Knabe Du nicht verstehn?
Meine Methoden lehren dich schweigen schön;
Meine Methoden führen dich sicher und fein
Und siegen im Ganzen und lullen dich ein.“ -

Mein Vater, mein Vater, und siehst du nicht dort
Erlkönigs Töchter am düstern Ort? —
Mein Sohn, mein Sohn, ich seh’ es genau:
Es scheinen die alten Weiden so grau. —

Herr Lehrer, Herr Lehrer, und fährst Du jetzt fort
Verschwindet Bildung an düsteren Ort. -
Mein Schüler, mein Schüler, ich weiß es genau:
Es scheinen die alten Verse so grau. -

„Ich liebe dich, mich reizt deine schöne Gestalt;
Und bist du nicht willig, so brauch’ ich Gewalt.“ —
Mein Vater, mein Vater, jetzt faßt er mich an!
Erlkönig hat mir ein Leids getan! —

„Du musst sie lernen, in Zwangs-Gestalt;
Und bist Du nicht willig, so lern´s mit Gewalt.“ -
Herr Lehrer, Herr Lehrer, jetzt kotzt es mich an!
Gedichte zu lernen - Zeit vertan! -

Dem Vater grauset’s; er reitet geschwind,
Er hält in Armen das ächzende Kind,
Erreicht den Hof mit Mühe und Not;
In seinen Armen das Kind war tot.

Dem Lehrer gefällt´s, er denket geschwind:
Gedichte als Strafe erzieh´n jedes Kind; 
Erreicht Pensionierung mit Mühe und Not;
Die Lust auf Bildung im Schüler war tot.


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